Der U-Bahnhof wurde 1923 als damalige Endstation der heutigen Linie U 6 eröffnet, und seitdem scheint hier als Relikt deutscher Ingenieurskunst auf dem Bahnsteigs zu stehen:
die 'Elektrische Präzisionswage mit Kartenausgabe'.
Auf ihr habe ich schon als Kind gestanden. Mir dürfte damals kaum aufgefallen sein, daß es statt 'Präzisionswage' doch 'Präzisionswaage' heißen muß.
Ist das 'A' weggeschwemmt worden, als sich in den letzten Kriegstagen 1945 infolge der Sprengung des Nord-Süd-Tunnels die Spree bis hierher zum Bahnhof Wedding ergoß und die Präzisionswaage tief im Wasser gestanden habean dürfte?
Andererseits scheint es, als wäre nie wirklich Raum für die vermeintlich fehlende Letter vorgesehen gewesen.
'Prüfe Dein Gewicht' zerstreut jedenfalls etwaige rechtschreibbedingte Zweifel, ob es sich bei der Wage tatsächlich um eine Waage handelt und spricht mit seiner Aufforderung direkt den Kunden an, die Waage zu benutzen.
Verläßt man das obere Drittel der Waage nach unten, wird ihm ein Versprechen gegeben, demnach es geradezu eine Dummheit wäre, sich nicht auf die Waage zu stellen:
Rauf auf die Waage, wiegen, lange Gesundheit nehmen.
Dank des Inklusivangebots der Kartenausgabe, gibt es etwas in die Hand obendrauf, ein Kärtchen zum Mitnachhausenehmen, damit man seine Kilos, die man mit sich herumschleppt, auch schwarz auf weiß hat.
Anhand der Liste, die Körpergröße und -gewicht in eine Idealbeziehung setzt, kann man sich orientieren, wie weit entfernt man von diesem Ideal und damit der langen Gesundheit ist, wieviel entsprechend noch zu tun ist in der Annäherung an das Ideal.
Denn das ist schon clever gemacht, daß nicht das sich Wiegen allein die lange Gesundheit geben wird, sondern das sich Wiegen UND danach Leben. Man stelle sich mal vor, da würde etwa versprochen:
Oftmals sich wiegen
und Deine Gesundheit wird lange siegen.
Das hört sich nicht nur alles andere als elegant an, nein das wäre ja geradezu eine Einladung, Schadenersatz gegen die Präzisionswaage zu erheben, wenn es gesundheitsmäßig mal nicht so läuft. In diesem Fall könnte sich das InklusivApp der Kartenausgabe auch noch als Bummerang erweisen. Hebt da jemand fleißig seine Kärtchen auf, wäre er beweismäßig schon mal voll im Vorteil, da könnte sich die Waage hin und herwinden wie sie will, unter der Last der Kärtchen käme sie ins Ächzen wie ein Adipositasler unter sich selbst.
Da das Versprechen auf lange Gesundheit aber nur unter der Bedingung gültig ist, auch nach den Erkenntnissen des Wiegeergebnisses zu leben, ist die Waage immer fein raus, weil sie jederzeit sagen kann: Ööh ööh, nix da Schadenersatz - nur sich wiegen gilt nicht, sondern - also, nicht danach gelebt! Da helfen dir dann alle deine Kärtchen nichts!
Aber bleib mal dabei. Nimm mal an, jeden Tag, gehst du da runter in die UBahn. Theoretisch müßtest du ja einen Fahrschein lösen, ja klar, auch wenn du gar nicht Ubahn fahren, sondern nur dich wiegen willst, aber sicher! Aber laß mal jetzt. Also du rauf auf die Waage, Karte gesammelt, und nimmst trotzdem nicht ab, aber denkst, na wie lange wird das noch gutgehen mit der Gesundheit. Also, logo, die Waage Schuld. Das stinkt dir.
Jetzt müßtest du erst mal rausbekommen, gegen wen du eigentlich vorgehen mußst. Nun paß auf, jetzt kannst du gleich was für deine Gesundheit tun. Jetzt mußt du nämlich gleich mal ein bißchen in die Knie gehen:
Sielaff ...irgendwas Gesellschaft, Berlin. Kucken wir mal: http://www.sielaff.de/
Sielaff GmbH & Co KG, Automatenbau. 1886 in Berlin von Max Sielaff gegründet, dem eigentlichen Erfinder von 'Selbsttätigen Verkaufsautomaten'. Das paßte ja.
So jetzt geh mal noch weiter runter, ja da mußt du dich fast hinlegen für - na klar kucken die Leute, wenn sich jemand auf einen U-Bahnsteig legt:
Also alles klar, Eigentum Sielaff Berlin. An die könntest du dich jetzt wenden. Aber ist ja egal, war ja nur mal so durchgespielt, kommst ja eh nicht mit durch, alles abgesichert.
Sielaff-Berlin gibt es jedoch nicht mehr. Seit 1949 sitzt die Firma in Herrieden, südlich von Ansbach in Mittelfranken. Daraus läßt sich immerhin folgern, daß die Präzisionswaage mindestens vor 1949 hergestellt worden ist.
Ich behaupte sogar, vor 1933.
In der Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1949 gab es mit Sicherheit ein Problem nicht: Adipositas, Fettleibigkeit oder Übergewicht. Wozu dann eine öffentliche Waage herstellen?
Und die Nazis hätten statt einer stählernen Präzisionswaage auf jeden Fall Waffen bauen lassen.
Ich glaube darüber hinaus, daß sie auch schon vor 1933 da stand, und zwar tatsächlich seit 1923.
Wie hätte dieser Stahlkoloß auf den Bahnsteig anders befördert werden können, außer per Kran durch die noch nicht geschlossene Bahnhofsdecke?!
Und seitdem steht Sielaffs Elektrische Präzisionswaage da, und konnte noch nicht einmal von den Nazis ans Tageslicht gehievt werden, um zu Kanonen oder sonstwas verhackstückt zu werden.
Jetzt steige ich aber einfach mal rauf.
Wow! Super! Nach der Idealgewichtstabelle fehlen mir schlappe gut 10 Zentimeter Körpergröße. (Die aktuellere BMI Berechnung kommt übrigens praktisch zum selben Ergebnis)
Und der Hammer! Ich bin ja nun nicht mitten auf dem Bahnsteig nackt auf die Waage gestiegen, trotzdem hat das Kärtchen die Gewichtsangabe ausgeworfen, die ich auch zuhause, und zwar unbekleidet, zur Zeit ermittele. Das kann ja wohl nur heißen, daß ein Bekleidungsfaktor in die Messung eingerechnet worden ist.
Bei der Datumsangabe auf dem Kärtchen allerdings sind vielleicht einige Schalttage nicht bedacht worden vom Automaten. Es war schon fünf Tage später als angegeben.
Aber jetzt kommt der BonusTrack.
Mag der eine oder andere sagen, habisch selber Waage. OK, alles klar, aber hast du auch sowas????!!!!
Perfekt. Kannst du gucken, wie groß oder geschrumpft du bist. Das hat niemand an seiner tapsigen Personenwaage zuhause, im Bad oder woimmer. Für die Ermittlung des Idealgewichts brauchst du aber eben unbedingt auch deine Körperlänge! Erst dann kannst du wissen, wieviel du noch wachsen, schrumpfen, zu- oder abnehmen mußt.
Der Haken ist ein schöner ExtraService, aber, denke ich, eher für den Winter gedacht, wenn man mehr Kleidungsgewicht auf die Waage brächte, als als Faktor von der Waage eingerechnet wird. Keine Scheu davor, den Mantel oder die dicke Jacke auszuziehen, anzuhängen und sich für zu schwer oder leicht befunden wiegen zu lassen!
Und das alles für 10 Cent!
Kaum zu glauben. 10 EuroCent steckst du rein, die Waage säuselt kurz, und wirft das Kärtchen raus.
Ein Rätsel, wie solch ein historischer Automat es schafft, Euromünzen zu identifizieren. Wirkt hier das offensichtliche Genie des Max Sielaff nach, der nämlich 1887 das erste Patent für einen Verkaufautomaten erteilt bekam, der offenbar den ersten funktionierenden Münzprüfer besaß. (http://www.sielaff.de)
Bleibt noch herauszufinden, wer eigentlich die Waage betreibt, das Geld herausholt, die Kärtchen nachfüllt, für Wartung sorgt. Aber dafür es ist heute einfach viel zu heiß.
Es gibt eine schöne melancholische Geschichte, zu der ich diese alten Post hier ausgegraben habe: http://www.tagesspiegel.de/berlin/nachrufe/peter-schulz-geb-1938/4419054.html
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